Blindflug

1992

Blindflug- eine Skulptur mit radioaktiver Strahlkraft als Ausdruckswert

von Georg Elben

Ihr Projekt "Blindflug" zeigte Diemut Schilling 1992 in der Parkgarage der Ausstellung "Die unbekannte Größe", die unter dem Motto "Technik und Kunst" in den Räumen der Technischen Universität Hamburg-Harburg stattfand und auch von ihr betreut wurde.

Bei dieser Arbeit handelt es sich um ein schweres, rundes Gefäß aus Zement, dessen Innenseite mit Blei verkleidet und das mit 400 l Wasser angefüllt ist. In dem Bleibehälter befindet sich eine runde Zinkscheibe, die etwa auf 1/3 Höhe zwischen Boden und Wasserspiegel platziert ist. ähnlich wie bei der Bild-Ton- Platte, die mit der Raumkapsel Voyager von der NASA ins All geschickt worden ist, sind 118 zentrifugal angeordnete Abbildungen in der Zinkscheibe eingeätzt.

Die Abbildungen zeigen die gesamte säkularisierte Hierarchie der Weltordnung, die auf menschlichen Hochleistungen beruht. Sie sollen, ohne auf irgendwelche Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten auf der Erde einzugehen, das Leben auf unserem Planeten für potentielle intelligente Lebewesen im Weltraum repräsentieren und dokumentieren. Hierbei übersteigt das ganze Bildermaterial der Bild-Ton-Platte nicht die Grenzen soziologischer Beschreibung, es sei denn, man meint, dass diese 118 ad random Erdbilder nicht einmal annähernd die Strukturen und Kulturen der menschlichen Gesellschaften bezeichnen oder symbolisieren. Wenn man den menschlichen Lebensraum als inneren Raum betrachtet, dann ist das Weltall der äußere Raum. Der Abschuss der Voyager koppelt den Verlust der relativen Unübersichtlichkeit des inneren Raumes an den Gewinn der relativen Übersichtlichkeit des äußeren Raumes oder, um es anders zu sagen: Die menschliche Innerlichkeit wird definitiv aufgegeben für die inhumane, technische Äußerlichkeit. Bevor die großen Probleme der Welt auch nur ansatzweise einer Lösung nahegekommen sind, richtet der Mensch seine Aufmerksamkeit schon von der Erde weg und führt sie anderen, stellaren und galaktischen Dimensionen zu. Dies könnte so verstanden werden, als ob der Mensch die Erde schon als Verlustfall abgeschrieben hat. Statt qualitativer Innerlichkeit quantitative Äußerlichkeit, statt Metaphysik Physik, statt Menschlichkeit Technik, statt sinnvollen Glaubens sinnentleerte Wissenschaft. So betrachtet, kann man mit Diemut Schilling den Flug der Raumkapsel Voyager mit ihren 118 "Weltbildern" als eine Art Flaschenpost, einen "Blindflug" oder aber als den Anfang einer blinden Flucht in eine neue Archäologie, nämlich die des Weltalls, empfinden. Wie die Zeit unumkehrbar und endgültig ist, so ist es der Flug der Raumkapsel in die endlose Nacht ebenso. Die Künstlerin hat für die Zinkscheibe auf dem Boden ihrer Plastik eine definitive Ablagerung simuliert, indem sie die auf ihr archivierten Bilder mit Blei und Beton schützt. Die Röhrenform des Behältnisses hat Diemut Schilling französischen Plutoniumbehältern entliehen, in denen das Plutonium unter Wasser in Blei und Beton gelagert wird. Mit dieser Wahl hat die Künstlerin sich gleichzeitig für die Innerlichkeit der 118 Weltbilder, deren menschliche Energie ja im Behälter eingeschlossen ist, entschieden. Die Außenseite der Plastik ist in ihrer betonten Klotzigkeit visuell nicht attraktiv; als Objekt, als Gegen-stand, der im Wege steht, ist er Symbolträger. Interessant wird die Plastik gerade dadurch, dass man weiß, was in ihr aufbewahrt wird. In dieser Verbindung von Wahrnehmung, Vorstellung und Wissen bestätigt Diemut Schillings Arbeit "Blindflug" außerdem die plastische Theorie von Joseph Beuys, die die Seinspriorität des Skulpturbegriffs über das Sein der Skulptur stellt.