ohne Titel

1991

Mehr mit dem Theoretischen, vor allem den Strukturen wissenschaftlichen Denkens, befasst sich die Holzarbeit "Ohne Titel". Hier sind zwölf vertikale Bretter so angeordnet, dass sich der Eindruck einer Schultafel ergibt. Diese Tafel ist mit Nagelreihen versehen, die oben in vier Reihen regelmäßig den einzelnen Brettern folgen, nach unten hin jedoch immer unregelmäßiger verteilt sind. Die vier oberen Reihen bilden eine geordnete Gruppe von 4 x 12, also 36 Nägeln, so dass eine regelmäßige und damit wissenschaftliche Struktur vorhanden ist. Man könnte das Nichtvorhandensein der Nägel in den unteren Partien als unbekannte Größen oder missing links in einem Versuch, die Evolutionsgeschichte darzustellen, interpretieren. An den Nägeln hängen weiträumig verteilt kleine plastische Objekte aus weißem Speckstein. Während die drei in den oberen Bereichen die Form organischer Strukturen haben und an die Natur oder die Prähistorie erinnern, wandeln sich die unteren zu Bruchstücken antiker Artefakte. Obwohl der klassische Faltenwurf als Ausdruck höchster Ordnung interpretiert wird, findet er bei Diemut Schilling seinen Platz in dem Bereich, wo die Nägel ihren regelmäßigen Zusammenhang schon längst verloren haben. Mit der Entwicklung der "Funde" von primitiven Lebensformen bis zur Ausbildung wissenschaftlichen Denkens in der griechischen Antike steigert sich die Unklarheit der tatsächlichen Zusammenhänge. Je näher der Mensch sich selber kommt, um so fremder wird er sich: Das eigene Herz ist sein größtes Geheimnis, sein eigentliches Labyrinth. Die Erklärungstheorie prallt nicht auf die Stoßdämpfer des Raumes und der Zeit, sondern auf die Unklarheit der eigenen Wirklichkeit.


Wouter Kotte