Prophezeiung

1993

Die letzten Dinge

von Peter Geimer

Das Relikt, die Reliquie, die Ruine - ihre Gegenwart gibt eine unauslotbare Paradoxie zu denken: die Anwesenheit dessen, was nicht mehr ist. In der Ruine zeigt sich das Werk in seiner eigenen Abwesenheit. „Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren. Sie selbst sind es zwar, die uns begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen“.

Ein Auge und ein Mund aus Bronze - der metallene Körper, von dem sie zurückgeblieben wären, müsste derjenige eines Giganten gewesen sein. Waren solche Bildwerke nicht für einen Blick aus der Ferne berechnet? Dass man ihnen so nahe kommt, holt sie aus ihrer Überlebensgröße zurück. Sie erscheinen in einer Distanzlosigkeit, die auf einmal die Machart, die Spuren der Produktion, zu erkennen gibt.

Eine Fotografie aus dem letzten Jahrhundert zeigt die Arbeiten an dem Guss der „Bavaria“. Einige Arbeiter haben soeben den Rumpf der monumentalen Skulptur erklettert: Sie geben das Bild eines Insektenvolkes, das sich einer Beute bemächtigt.

In der Nähe zeigt sich das Riesenauge als bloßer Umriss, als Skelett eines Auges, als Ding ohne Blick. Seine Leere reizt mich, ein Geldstück hindurchfallen zu lassen.

Zugleich das Bild einer ganz anderen Ferne: der Ferne einer gewesenen Zeit, als deren Überreste die beiden Teile geborgen worden wären. Es wäre die Ferne, die auch den Wagenlenker von Delphi umgibt oder den alten Gott, der vor der Insel Euböa aus dem Meer heraufgeholt wurde.

Für Heidegger waren die Ruinen der antiken Akropolis „erfüllt von der Verlassenheit des Heiligtums. In ihr näherte sich unsichtbar die Abwesenheit der entflohenen Göttin“.

Aber wie die künstlichen Ruinen in den Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts sind die beiden Fragmente als Reste geschaffen worden. Die Spuren ihrer Verwitterung wurden hergestellt. Sie sind niemals etwas anderes als Fragmente gewesen. In der Gewissheit dieses Als-ob müsste alles noch einmal anders gedacht werden.