Recall

1996

Ein Reservat fast verschwundener Formen

von Wolfgang Ullrich

Flaniert man durch eine mitteleuropäische Stadt und achtet dabei nur auf die Skulpturen, die sich im öffentlichen Raum befinden, so könnte man einen merkwürdigen Eindruck von unserer Kultur erhalten. Löwen, Engel und griechische Göttinnen bestimmen das Bild auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts -und das selbst in scheinbar rein durch die Industrialisierung definierten Städten wie Wuppertal. Doch liegt dies nicht daran, dass immer noch so viele dieser mythischen oder mythisierten Wesen neu hinzukommen; vielmehr entsteht nur wenig anderes - skulptural Interessantes -, was die Dominanz dieser Spezies relativieren könnte. So herrschen sie nach wie vor - mangels Nachfolge - in den Städten, in Varianten aus Stein oder Bronze, die im übrigen aus Zeiten entstammen, welche an den mythischen Gehalt dieser Löwen oder Engel ihrerseits schon nicht mehr unbedingt glaubten: zumal Klassizismus und Gründerzeit, aber auch traditionalistische Strömungen, die zumindest bis in die 50er Jahre des Jahrhunderts reichen, hinterließen hier nämlich insbesondere ihre Spuren im Bild der Städte. Was etwa das staatliche Gewaltmonopol anbelangt, das sich in Institutionen wie Gericht oder Polizei manifestiert, so ist auf den Vorplätzen der entsprechenden Gebäude nach dem Löwen kein allgemeines und eindeutiges Symbol mehr entwickelt worden. Also stehen oder sitzen, ruhen oder schreiten diese Raubtiere wie ehedem bevorzugt am Fuße von Treppenaufgängen und repräsentieren Macht. Überhaupt sind längst die Städte - und nicht mehr die Wüsten - die bevorzugten Orte von Löwen. Die lebenden Vorbilder der vielen öffentlichen Skulpturenlöwen sind nämlich mittlerweile überwiegend in den Tierparks der großen Städte - auch in Wuppertal - versammelt, ja dort sind, im Unterschied zur ursprünglichen Idee des Tierparks, bei nicht wenigen Tierarten kaum noch Exemplare im Sinne von Exempeln, also von Einzelbeispielen einer Gattung zu sehen als vielmehr der Großteil aller überhaupt noch lebenden Vertreter der jeweiligen Tierart, die so vor dem Aussterben geschützt wird. Städte sind also heutzutage beides: Reservate für bedrohte Arten sowie Reservate für alte Symboliken und Repräsentationstraditionen.

Die Arbeit Recall von Diemut Schilling macht die Merkwürdigkeit solcher Reservate inmitten der Städte bewusst. In ihr werden mehrere Partien von zwei Wuppertaler Bronzelöwen - sie stehen vor der ehemaligen Bahnhofsdirektion am Hauptbahnhof -, kopiert und auf einem Metallgestell angebracht, das an entsprechende Gestelle für Dinosaurierskelette in Naturkundemuseen erinnert. Besieht man sich ein, - aus Gips nachgebildetes - Mähnenstück eines dieser Löwen aus der Nähe, und streift der Blick sodann zum Maul oder einem Beinansatz, so kann man es kaum anders als atavistisch empfinden, dass in einer Zeit, wo Verwaltung weitgehend mit Hilfe von hochentwickelter Elektronik und Hightech ausgeübt wird, immer noch ein Tier als Bild eben dieser Verwaltung herzuhalten hat - und zudem ein Tier, das längst keine rechte Herrschaftsfülle mehr besitzt und kein „König“ mehr ist. Gerade die Fragmentierung des Löwenkörpers, wie sie Diemut Schilling vornimmt, verdeutlicht das Fremde dieser Art von Gestalt in einer (Stadt)welt, die zunehmend von cleanen Stromlinien, von glatten Fassaden und perfekt- gleichmäßigen Formen gekennzeichnet ist. Die inhaltliche Abstraktion, die das Zerlegen des Körpers in Einzelteile bewirkt, erlaubt es dabei vor allem, stärker auf die skulpturalen Qualitäten dieser Löwenform zu achten. Plötzlich erscheint dann der Löwe - allein wegen seiner gegenüber dem technischen Design abweichenden Körperlichkeit - doch wieder als etwas beinahe Wildes und Gewaltiges. Kräftig und brisant, vielleicht sogar brodelnd wirkt das vielfach Geschwungene und heftig Gezackte der Mähne, ja machtvoll und entschlossen präsentieren sich die Berge und Täler, aus denen sie besteht. Es ist hier - und nicht minder bei den anderen der Fragmente - eine Fülle an skulptural Aufregendem und Überraschendem zu entdecken, und das an kubistische Anordnungen erinnernde Arrangement der Löwenstücke sprengt zudem den einen Körper in eine Vielzahl eigenständiger Elemente, die jeweils für sich das Auge des Betrachters zu beeindrucken vermögen. Je mehr dieses Auge an moderner und insbesondere an minimalistischer Skulptur geschult ist, je mehr es gewohnt ist, nur jenen Stromlinienformen des Technischen zu folgen, desto irritierter und stärker verunsichert wird es vom skulpturalen Reichtum dieser Löwenfragmente sein, desto eher kann es aber auch von der sinnlichen, wenn nicht gar schon erotischen Kraft dieser Formen affiziert und angeregt werden.

Die Stadt erweist sich damit nicht nur als Reservat selten gewordener Tiere oder altmodisch gewordener Symbole, sondern ebenso als Reservoir sonst nicht mehr gepflegter Formensprachen. Etwas wie diese an sich völlig unspektakulären Löwen - die Originale stammen aus der Zeit um 1833 - gibt es in der gesamten modernen Bildhauerei eigentlich nicht mehr. So tief ist der Bruch mit der (gegenständlichen) Tradition, dass auch die wenigen Versuche, bei denen ihre Themen wieder aufgenommen werden, kraftlos und nicht selten erbärmlich ausfallen, da nicht einmal handwerkliche Techniken hinreichend bewahrt wurden. Dem technischen Fortschritt, der im Allgemeinen zu einer immer differenzierteren Materialbeherrschung führte, steht also eine Vernachlässigung der Grundlagen des künstlerischen Umgangs mit Stein oder Metall gegenüber, zumal man sich in der Kunst bekanntlich stärker auf das Konzeptuelle verlegte und nur noch selten auf handwerkliche Materialraffinesse Wert legte.

Dieses Auseinanderdriften von Kunst und Technik ist auch mitverantwortlich für die bereits bemerkte große Diskrepanz zwischen den mittlerweile hochtechnisierten Institutionen und der bildlichen Symbolisierung ihrer Macht. Während die Kunst sich für zeitgemäße bildliche Repräsentation von staatlicher Macht kaum noch interessieren lässt, fehlt es in dem Bereich der Technik, durch den nicht nur das Funktionieren, sondern auch zunehmend das Erscheinungsbild der Welt geprägt wird, an Tradition und Fähigkeit, um Formen für eine solche Repräsentation zu entwickeln.

Für Diemut Schilling ist ein Gang durch eine Stadt wie eine Schatzsuche, und sie birgt in ihrer Arbeit kostbare Teile einer gefundenen Formenvielfalt, um auf diese Weise die zeitgenössische Kunst mit einer Skulptur zu konfrontieren, die, gerade weil sie beinahe Tabuisiertes und längst fremd Gewordenes erneut vorstellt, gewiss auch auf Wiederstand stoßen wird. Indem sie das Alte aber nicht simpel nachbildet, sondern fragmentiert, ergeht eine Aufmunterung an den Betrachter, über die Fragmente hinauszudenken oder die fehlenden Partien zu ergänzen. Dann wird das in den Einzelstücken befindliche Potential erst wirklich spürbar, sind sie doch formal so komplex, dass sich jeweils sehr viele Möglichkeiten der Weiterführung denken lassen. Dasselbe Teil könnte - für sich genommen - in völlig unterschiedliche Assoziationsbereiche verführen - eine Idee, der Diemut Schilling in einer früheren Arbeit nachgeht. Erst durch die Verbindung, in der die Fragmente bei Recall stehen, wird deutlich, dass sie alle einem einzigen Grundtypus, nämlich dem des Löwen, entstammen, der so einige seiner ehemaligen Epitheta und vor allem ein Stück seiner einstigen Imposanz zurückgewonnen hat.